Mercedes Lauenstein
nachts
Aufbau Verlag
Eine junge Frau – dass sie jung ist, kriegen wir mit der Zeit heraus,
dass es eine Frau ist, auch erst nach und nach – klingelt spätnachts bei
Leuten, in deren Zimmer sie noch Licht sieht. Sie präsentiert sich als
Soziologin auf Recherche, die besondere Verhaltensweisen statistisch
untersucht, in diesem Fall die Schlaflosigkeit oder nächtliches
Wachsein.
Das erinnert ein bißchen an Jean Rouchs Dokumentar-Film „Chronik eines
Sommers“ (1960), aber hier liegt hinter der angegebenen Absicht eine
zweite Absicht. So wird es denn kein wissenschaftliches Gespräch,
sondern eine zwanglose und irgendwie unbeschwerte Plauderei, in deren
Verlauf beide Seiten einiges von sich selber erzählen – allerdings ganz
asymmetrisch: Die Besuchten sind bereit, sich zu öffnen, Dinge über sich
preiszugeben, die andere Leute eigentlich gar nichts angehen. Die junge
Mutter, die nachts endlich Ruhe findet, der ehemalige Bäcker, der nach
Mitternacht kaum noch Schlaf findet, der Koch, der ein neues Leben
beginnt und jetzt gerade vor seinen Umzugskisten sitzt und sinniert, wie
es bisher gelaufen ist. Die Erzählerin gibt ihren Gastgebern kaum etwas
preis, aber sie öffnet sich uns – ihre Einschätzungen, ihre Haltung
zeigen uns, was sie beschäftigt. Mercedes Lauensteins Erzählerin hat
einen leichten, immer etwas belustigten Ton, in dem sie auch sich selbst
darstellt. Niemals sicher oder selbstbewusst, immer mit der Idee, sie
könnte da gerade etwas tun, das nicht ganz in Ordnung ist. Dieser Reiz
von halb korrekt und halb indiskret bestimmt die Farbe des Erzähltons:
leicht, charmant, mit Humor und etwas Weisheit.
Als echte Feldforschung hätte das für uns Leser eine trockene Studie
werden können – ist es aber nicht, zum Glück. Es ist ein reiche Sammlung
unterschiedlichster Charaktere dabei herausgekommen, und offenbar ist
das gar nicht alles authentisch, sondern Literatur.
Haben Sie da mit einem Tonaufnahmegerät gearbeitet?
Was passiert denn, wenn eine junge Frau spätnachts an fremden Türen
klingelt. Kann man da nicht auch Angst haben – eine Frau, nachts, allein,
vor Unbekannten?
Sind Sie denn nachts herum gelaufen und haben tatsächlich wildfremde
Leute zuhause aufgesucht?
Mercedes Lauenstein ist offenbar fasziniert von „der Nacht“, auf ihrer
Website sind allerlei Texte über Abend, Nacht und frühmorgendliches
Heimkommen versammelt, die sie zuvor vor allem in der Süddeutschen Zeitung
publiziert hat. Alles etwas kapriziös, aber dem Thema treu.
Was hat es denn auf sich mit Ihrer Nachtaffinität?
Könnte diese Recherche, die keine echte Recherche ist, oder diese Asylsuche,
die sich als etwas anderes ausgibt, auch ein Stück Konzeptkunst sein? So wie
andere Künstler jahrelang alles mögliche sammeln und ihre Schätze dann als
Assemblage präsentieren? Oder ist es eine Art Stadtnomadin auf der Suche
nach Anschluss und Wärme?
Ist Ihre Erzählerin eine Jägerin oder eine Sammlerin?
Aber nicht bei jedem geht diese Besuchs-Anordnung so glatt, wie erhofft:
Einmal ist die Erzählerin bei Albert, dem früheren Bäcker. Dann kommt dessen
Frau. Irgendwas geht zu Bruch und die Erzählerin ergreift die Flucht.
Eine Irritation im Ablauf – warum muss Ihre Heldin gleich weglaufen? Was
wird da zerstört?
ISBN 3-351-03614-0
http://www.aufbau-verlag.de/index.php/nachts.html