, Cécile Wajsbrot Die Köpfe der Hydra aus dem Französischen von Brigitte Große
Verlag Matthes&Seitz

Cécile Wajsbrot betitelt ihr Buch „eine Geschichte“, und tatsächlich ist es vermutlich eher wahr und authentisch als kunstvoll erdacht und gestaltet. Es geht um den Vater der Erzählerin, der sich in Form einer zunehmenden Alzheimer-Erkrankung aus dem Leben zurückzieht und mental wieder zum Kleinkind wird. Dies erzählende Ich ist eine alleinstehende freiberuflich tätige Frau, die nun, als ihr Vater zum Pflegefall wird, in einen Strudel von Verpflichtungen, Aufgaben und zum Teil kaum lösbaren Problemen gerät.

Betreuung organisieren, Fürsorge, Vorsorge, ein bißchen Unterhaltung, Zuspruch, Lauern auf die wenigen verbliebenden lichten Momente des älteren Herren, der sich zeitlebens verschlossen hatte, dem die Frau davonlief und den seine neue Lebensgefährtin in der Wohnung, die ihr gehört, gelassen hat, als es prekär wurde. Das alles spielt sich in Paris ab, also in einem Land, in dem die Altenfürsorge noch nicht so weit gediehen ist wie bei uns heute. Die Geschichte fand schon vor 10 Jahren statt, und die Autorin hat diesen Text bereits damals verfasst, ihn dann aber verworfen und erst jetzt publiziert. Was uns Cécile Wajsbrot erzählt, ist eine Geschichte zwischen Verzweiflung und kurzen Momenten bescheidenen Glücks, an deren Ende sie sich ihrer selbst nicht mehr sicher war.
Cécile Wajsbrot lebt in Paris. Sie übersetzt Literatur und Essays aus dem Deutschen und Englischen ins Französische. Ein paar Bücher von ihr liegen bereits in Deutsch vor. Man könnte es auch einen autobiographischen Essay nennen, was der Verlag als „Eine Geschichte“ veröffentlicht hat, und was im Original récit heißt, Erzählung.
Bücher um Alzheimer gibt es zur Zeit ja öfters, und auch Cécile Wajsbrot hat sich Gedanken gemacht, ob sie diesen Text irgendwie gestalten soll. So wie Arno Geiger in dem Buch über seinen dementen Vater mit ziselierten Formulierungen brilliert und sich ausdrücklich als Schriftsteller von den krankheitsbedingt schrägen, „originellen“ Formulierungen des Vaters inspirieren lässt. Cécile Wajsbrot zieht keinen künstlerischen Nutzen aus ihrem Unglück. Was sie schildert, ist vielmehr eine Auflösung, ein Verlust des eigenen Halts angesichts einer Situation, die sie einengt und gefangen hält.
Martin Suter hat in „Small World“, einem spannenden Roman, eine rückwärts gewandte Aufklärung beschrieben und ließ seiner Hauptfigur am Ende Gerechtigkeit widerfahren. Cécile Wajsbrot beschreibt einen, der immer geschwiegen hat, und dessen ungerechtes Schicksal sowieso nicht wieder gutzumachen ist. Vielmehr setzt sie sich dem ganzen Unheil dieses Pflegefalls aus und geht in sich, und was sie da vorfindet, ist eine ziemlich komplexe Angelegenheit, eine Anzahl schwieriger Themen, die jedes für sich ein Buch wert wären, die hier aber unentwirrbar miteinander verwoben sind: das Schicksal polnischer Juden in Paris, die in ihrem Heimatland Pogromen und antisemitischen Schikanen ausgesetzt gewesen waren; die Ermordung eines Teils ihrer Familie im Holocaust; die in Frankreich lange Zeit herrschende Verdrängung der französischen Kollaboration bei der Judenverfolgung und die Wirkungen dieses Totschweigens auf die ehemals Verfolgten, während es in Deutschland bereits eine Vergangenheitsbewältigung und den Beginn der Erinnerungskultur gab; die Unbeholfenheit des Vaters mit dem Französischen in Zeiten, als die Franzosen es den Sprachfremdlingen nicht gerade leicht machten, und ihre eigene Übersetzertätigkeit als eine Art von überkompensierender Assimilation; die Rolle der Kinder der Überlebenden des Holocaust; schließlich neben der Alzheimer-Erkrankung die Möglichkeit, dass durch die Krankheit im Vergessen zu verschwinden droht, was so schwierig war, überhaupt ins gegenwärtige Bewusstsein zu bringen, nämlich das Schicksal der verfolgten Juden unter der Herrschaft von Vichy, und, damit einhergehend, die subjektiv angenommene Pflicht, nun dafür sorgen zu müssen, dass die geleistete Arbeit zur Erinnerung des Untergangs der Angehörigen ihrerseits nicht vergessen wird.
Dass neben dem Vater auch noch die Tante von einer ähnlichen Erkrankung ereilt wird, deren Symptome gelegentlich das Groteske streifen, ist ein weiterer Aspekt derselben Sache, wie auch, dass schon die Großmutter an Alzheimer gelitten hatte. Cécile Wajsbrot versteht diese Formen von Demenz auch als einen Weg ihres Vaters, ihrer Großmutter, ihrer Tante, endlich selbst vergessen zu können, also eine Last abzuwerfen. Dass diese Last damit der Tochter aufgebürdet wird, spielt für sie keine Rolle mehr.

ISBN: 978-3-88221-581-6

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