, Judith Kuckart Wünsche Dumont-Verlag

Eine Frau bricht aus, ein Mann setzt sich ab – das ist ein etabliertes Thema, und doch bietet es mit jeder Generation neue Möglichkeiten: Je nachdem, wie die Position der Frau oder des Mannes ist, je nachdem, welches Modell, welche Lösung der Autor für seinen Helden bereithält. Vera kam als Pflegekind in das Haus, in dem sie immer noch lebt. Ihr Pflegevater hat sie, nachdem seine Frau gestorben war, geheiratet und sogar einen Sohn mit ihr. Vera war in ihrer Umgebung stets etwas Besonderes, in einem Film hatte sie als Jugendliche einmal einen Auftritt, dessen Ruhm ihr über die Jahre erhalten geblieben ist, ohne dass sie jemals wieder geschauspielert hätte. So etwas geht nur in einer Kleinstadt mit festgefügter Struktur der Milieus. Vera fasziniert bis heute. Sie ist das Gravitationszentrum einer provinziellen Freundesgruppe, und als sie einen unerwarteten Schritt tut, geraten die Trabanten ganz aus der Bahn: Am Tag ihres 46. Geburtstags, lässt sie sich in der Badeanstalt unter dem Vorwand, sie habe den Schlüssel verloren, den Spind einer anderen Frau öffnen, deren Kleiderstil und -größe ihr gemäß erscheinen, während sich die tatsächliche Besitzerin bereits im Becken tummelt. Vera bricht auf, um eine Reise ihrer Jugend zu wiederholen, nach der ihr Leben, damals, anders hätte verlaufen können.

Sie war seinerzeit mit ihrer Freundin Meret nach London gefahren, gegen den Willen von Merets Eltern, die mit ihrem Kaufhaus zu den Honoratioren des Orts gehörten. Was wäre gewesen, wenn sie damals die andere Möglichkeit gewählt hätte? An solch eine Wegegabel des Lebenswegs ist jeder schon einmal gekommen, zumeist erkennt man sie erst nachträglich und kann sich dann – mehr oder minder beunruhigend – fragen, wie es hätte werden, wie das andere hätte ausgehen können.
Auch dieses Mal bleibt Vera gar nicht lange weg. Sie lernt in London einen langweiligen, aber männlichen Berufssoldaten kennen. Obwohl ihr Ausbruch gelungen ist und sie eine neue Existenz beginnen könnte, kehrt sie zurück mit der philosophischen Erkenntnis, dass jeder in dem Leben landet, in das er halb sich durch seine Entscheidungen manövriert, und in das er halb von den Umständen seines Lebens geleitet wird.

Ist das Schicksal?

Es bleibt unklar, ob es für Vera bereits das Ziel gewesen ist, einmal ausgebrochen zu sein aus dem normalen Leben, sich gewissermaßen bewiesen zu haben, dass in ihr noch die alte vitale Spontanität steckt, oder ob sie unausgefüllt war von ihrem gleichförmig gewordenen Leben.
Auch ihre Jugendfreunde, die Geschwister Friedrich und Meret Wünsche, stehen im Rückblick vor einem nicht ausgelebten Leben. Sie sind die Erben eines ortsansässigen Kaufhauses, und jetzt, als Friedrich endlich übernehmen kann, will er ein Retrokaufhaus daraus machen – so wie Vera scheint er einen Neuanfang im Vergangenen zu suchen. Und nicht nur das verbindet die beiden: Friedrich hat Vera seinerzeit verehrt, und womöglich ist Veras Sohn auch sein Kind.

Warum suchen die beiden ihr Glück im Vergangenen?

Meret dagegen, eine Egozentrikerin von Graden, pflegte eine leicht lesbische Beziehung zu Vera und vertändelte ihr Leben in Antihaltungen zu dem bürgerlichen Durchschnittsleben, das von ihr als reicher Tochter mindestens erwartet worden wäre. Sie stößt die Eltern vor den Kopf und will sich unabhängig ausleben. In ihrer impulsiven Exzentrik hat sie sich entschlossen, eine Würstlbude zu betreiben. Auch sie kehrt zurück an den Ort ihrer besseren Herkunft, wo sie als Miterbin die Chance zu einem Neubeginn wittert, und auch sie muss den Gedanken zulassen, dass sie auf ihre wildere Art auch nicht mehr Erfüllung fand als die beiden anderen.

Geht es, mit diesem Rückblick, nicht auch um das Alter?

Mit diesem Roman greift sich Judith Kuckart eine unauffällige, scheinbar normale Frau in einer Kleinstadt heraus und zeigt an ihr das Potential, das in jedem Menschen steckt, wenn er sich nur mal traut, einen Schritt weiter zu gehen, als von ihm erwartet wird. Während Meret, die doch so viel mehr Chancen und Möglichkeiten gehabt hätte, nach langem Umweg erfolglos aufgibt und die Rolle der Kaufhauserbin annimmt, die ihr immer zugedacht war, macht Vera diesen Schritt mit leichter Geste wieder rückgängig. Sie hat trotzdem für sich und vor allen gezeigt, was in ihr steckt. Mehr braucht es vielleicht gar nicht. Ein Buch, das uns auffordert, zu überlegen, welches von diesen Modellen auf uns selbst zutreffen könnte.

ISBN 978-3-8321-9705-6

http://www.dumont-buchverlag.de/buch/Judith_Kuckart_Wuensche/12215