, Charles Lewinsky Kastelau Roman, Nagel & Kimche

Eine Filmcrew der Ufa seilt sich mitsamt ihrem Projekt und den Technikern ab ins bayerische Oberland, um den Bomben zu entgehen, die im letzten Kriegsjahr Berlin verheeren. Das Projekt ist ein Durchhaltefilm der Nazis, im tiefen Winter 44/45, jetzt drehen sie nicht weit vom Obersalzberg. Von diesem Film haben wir, heute, noch nie gehört.
Aber die Geschichte geht ja weiter:
Wie es gar nicht ausbleiben kann, ergeben sich innerhalb dieser im Sinn des Wortes verschworenen Gemeinschaft allerlei gruppendynamische Unwuchten: Eifersucht unter den Stars, rücksichtsloser politischer Opportunismus, zuletzt ein Mord, gedreht vor laufender Kamera. Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky erzählt diese Episode in seinem Buch „Kastelau“, das seinen Titel nach dem Bergdorf trägt, in dem sich das alles abgespielt haben soll. Es gibt diesen Ort aber gar nicht.

Sie haben das Buch angelegt, als sei es dokumentarisch. Es hätte doch ein normaler Roman sein können.

Die Darstellung dieser Nebenhandlung am Ende des Zweiten Weltkriegs, die als Entdeckung eines Historikers geradezu sensationell wäre, fängt einigermaßen unprätentiös an. Ein obskurer amerikanischer Filmfan und Videothek-Betreiber hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Schauspieler Arnie Walton, der sogar am Walk of Fame in Hollywood einen Stern hat, als alten NS-Schauspieler mit belastender Vergangenheit zu entlarven. Als Student ist Samuel Saunders dem Schauspieler, der zuvor als Walter Arnold in Hitlers Deutschland Karriere gemacht hatte, auf die Schliche gekommen. Aber Saunders gelingt es nicht, seine Entdeckung publik zu machen.
Das Buch setzt ein, als Samuel Saunders Waltons Stern mit der Spitzhacke zertrümmern will, bzw. mit der Feststellung seiner Personalien durch eine Polizeistreife, die ihn an seiner Tat gehindert hat. Es geht weiter mit Auszügen aus dem Tagebuch eines anderen, an den Dreharbeiten am Obersalzberg beteiligten Schauspielers, mit erhaltenen Ausrissen des Drehbuchs und Fragmenten einer Abhandlung, in denen Saunders die finstere Vorgeschichte des Hollywoodstars nachweisen will, der dieses Filmprojekt nach dem Krieg als Akt des Widerstands und damit sich selbst als Widerständler ausgegeben hat. Charles Lewinsky hat offensichtlich seine Freude, die Authentizität seiner Dokumente mit Fakten-Belegen aus der Phantasie quasi wissenschaftlich unanfechtbar zu machen.
So macht er aus seiner Invention ein literarisches Verwechslungsspiel und lässt dabei kaum etwas aus: weder das gefundene Manuskript, noch die Tonbandaufnahme mit der Aussage der Hauptzeugin oder amtliche Belege. Auch ein bißchen Wikipedia ist untergebracht, damit es richtig echt aussieht.

Haben Sie, um das Dokumentarische zu verstärken, auch Artikel in Wikipedia extra kreiert?

Je öfter uns Lewinsky von der Transkription des Interviews oder von den Theorien des Studenten über die Fußnoten in den Anhang schickt, wo selbstgemachte Nachweise die Wahrheit der Geschichte des Filmteams im Schnee der Berchtesgadener Berge untermauern sollen, desto unterhaltsamer wird diese hanebüchene und liebenswert alberne Komödie vom Nazifilm, der plötzlich den Widerstand verherrlichte. Dabei geht es doch um ernste Dinge: Nur weil einer der Darsteller nach den Nazis weiter seine Karriere machen und dafür seine Biografie beschönigen will, kommt es zum Mord.

Wenn man das als Art erzählerischer Komödie begreift und die Fußnoten und die scheindokumentarischen Elemente als lustige Einlagen erkennt, dann kommt auch ein Zweifel, ob das bei diesem Thema wirklich passt?

Lewinsky fügt immer, wenn ihm danach ist, eine Fußnote oder ein Faktendetail an, um weitere Authentizität vorzugaukeln. Überwiegend charmante Regieeinfälle des Autors, die schnell als Taschenspielertricks durchschaut sind und die Komik erhöhen. Zugleich kann man dadurch dem Entstehen des Romans regelrecht zuschauen. Der Autor hat sich einen Spaß gemacht und lässt uns daran teilhaben. Dass er sich mit derlei auskennt, zeigt sein Werdegang: Zuerst beim Theater, dann in der Fernseh-Unterhaltung, unter anderem auch mit Harald Juhnke.

Das Herzstück sind die Transkriptionen eines langen Interviews mit der Schauspielerin Tiziana Adam, die 1945 als blutjunge Komparsin, aber eben als Geliebte des Regisseurs, ins Gebirge mitgenommen worden war, und die hier in einer gewissen schnoddrigen Berliner Tonart ihrem Unmut über die Welt schlechthin ausführlich Ausdruck verleiht.

Haben Sie das Berlinerisch Ihrer Heldin in Anlehnung an Ihren zeitweiligen Coautor Harald Juhnke gestaltet?

Es gibt schon Bücher, in denen nicht existente Personen in dokumentarischem Duktus vorgestellt werden, „Die Wahrheit über Arnold Hau“ von Waechter, Gernhardt und Bernstein oder „Die definitive Biographie des P.D.Q. Bach“ von Peter Schickele – jeweils ein als wissenschaftlich verkleideter Bluff mit hohem Spaßfaktor.

Haben Sie sich von anderen Original-Erfindungen der historischen Zunft inspirieren lassen?

Ein historischer Kriminalfall, eine Widerstandsschmonzette aus dem Berchtesgadener Land, ein Hollywoodstar mit braunen Flecken auf der weißen Weste – beste Zutaten zu einem literarischen Unterhaltungsprogramm erster Güte.

ISBN 978-3-312-00640-3

http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/kastelau/978-3-312-00630-4/