, Clarice Lispector Nahe dem wilden Herzen aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Ray-Güde Mertin
Verlag Schöffling &Co

Unter dem Banner „Frauenliteratur“ haben wir schon manches Buch durch unsere Regale und die der Buchhändler wandern sehen, und das meiste davon war eng an seine Zeit gebunden, so dass es über die Jahre in Vergessenheit geriet. Dieses Buch hier ist etwas anderes:

Clarice Lispector stammte aus einer ukrainisch-jüdischen Familie, die nach der russischen Revolution vor der Unterdrückung und den Pogromen flüchten konnte. Ihre Eltern hatten, nachdem der Vater in Hamburg keine Arbeit hatte finden können, den Weg nach Brasilien genommen, wo sie ihre ersten 14 Jahre in Recife aufwuchs, bis die Familie 1934 nach Rio wechselte. Ihr Mann, zum Missfallen der Familie katholisch, war Diplomat. Sie lebte daher u. a. in Neapel, Bern und Washington. Aber bevor sie das Leben einer Diplomatengattin richtig angetreten hatte, verfasste sie das vorliegende Buch. Es war 1944 eine literarische Sensation und machte sie in der brasilianischen Literaturwelt zu einer Größe, die ihre Rätselhaftigkeit ebenso pflegte wie ihre Schönheit, und die nach und nach ein umfangreiches Werk hervorgebracht hat, das in Deutschland mit satten vier Jahrzehnten Verspätung zur Kenntnis genommen wurde.

Bis heute ist sie eine Autorin von Weltrang, nicht zuletzt wegen „Nahe dem wilden Herzen“. Der Titel stammt aus dem Motto, einer Zeile aus dem „Porträt des Künstlers als junger Mann“ von James Joyce: „Er war allein. Er war verlassen, glücklich, nahe dem wilden Herzen des Lebens“, womit die Erzählhaltung einer radikalen Subjektivität genauso umrissen ist wie das Thema: Die Sucht und die Suche nach reinem Leben, nach echter Freiheit, die auch im Tod liegen kann. Joana lebt komfortabel in einem eigenen Haus, ihr Mann Otávio ist offenbar Jurist, arbeitet zum Teil daheim und hat ihr, wie es die Gesellschaft will, die Rolle der braven Ehegattin und Hausfrau zugedacht. Doch sie tickt anders. Sie zerrt an den Fesseln ihrer Existenz, sie ist von exzentrischer Überempfindlichkeit und reagiert sich ab in eigenartigen Gedankengängen und in impulsiv verübten Gewaltgesten, die sie sogleich auf unverfroren-überlegene Art verharmlost, so dass sie den Menschen ihrer Umwelt tatsächlich befremdlich wird in ihrer Unberechenbarkeit. Damit eröffnet sie uns eine Seelenwelt und ein Temperament, wie es im normalen Verhalten unserer bürgerlichen Gesellschaft, wenn es überhaupt existiert, unterdrückt wird: spontan eigenwillig, intellektuell überlegen und offensiv, dabei mit der Weite eines gewissen Humors, den oft nur solche Leute aufbringen, die zuvor mit den Schattenseiten in Berührung gekommen sind. Wer das Buch liest, erlebt einen Menschen, der seine Unzugänglichkeit paradox ganz nah zeigt.

ISBN 978-3-89561-620-4

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