, Victor Serge Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew aus dem Französischen von N. O. Scarpi (Fritz Bondy)
Unionsverlag

Dies ist einer der wichtigen Romane des 20. Jahrhunderts. Er ist im Jahr 1948, schon nach dem Tod des Autors, in Frankreich erschienen und wurde bereits 1950 ins Deutsche übersetzt. Jetzt ist er wieder als Taschenbuch erhältlich, und wer es liest, kann sich ein weiteres Mal wundern, wieso es erst Solschenizyn mit seinem „Archipel Gulag“ gelungen ist, im damals ja bereits demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Westeuropa die Erkenntnis zu befördern, dass die Sowjetunion eine Tyrannei war, und dass die Sowjetunion unter Stalin ein einziger Schrecken gewesen sein muss.

Es beginnt mit einem acte gratuit, einem Mord aus Gelegenheit, den ein unzufriedener junger Mann verübt, und dem ein hoher politischer Funktionär zum Opfer fällt, der Oberst Tulajew, Mitglied des Zentralkomitees und mitverantwortlich für Massendeportationen und politische »Säuberungen«. Es ist die Zeit der späten Dreißigerjahre in der Sowjetunion: Josef Stalin und seine Gefolgsleute verfolgen alle, die sie als ihre Gegner ansehen.

Und alle, die an den Verhaftungen und Exekutionen mitwirken, tun dies im Bewusstsein, früher oder später selbst Opfer dieser mörderischen Paranoia zu werden. Sie sind sogar gewillt, um der Sache willen, und um nicht dem Gegner in die Hände zu spielen, sich umbringen zu lassen. Meistens kommt ein harmloser Chauffeur und holt das Opfer mit der Bemerkung ab, es gebe eine Versammlung, oder der Vorgesetzte wolle eine Unterredung. Den Angehörigen wird gesagt, ihr Mann oder Vater sei in ein paar Stunden wieder da. Nie wieder sehen sie ihn.

Diese Zeit heißt in den Geschichtsbüchern der »Große Terror« oder die »Große Säuberung«. So wird der Mord an Tulajew zum willkommenen Auslöser einer neuen Säuberungswelle, einer über das gesamte Land wirkenden Kettenreaktion, der einer nach dem andern ehemalige Weggefährten des Oberst Tulajew, tapfere bolschewistische Revolutionäre der ersten Stunde, treue Parteifunktionäre zum Opfer fallen, indem sie als Trotzkisten oder Konterrevolutionäre verdächtigt werden. Es trifft hinterlistige Diener und Denunzianten genauso wie anständige Staatsbeamte. Und vor allem, wer schon lange dabei ist, scheint die Macht des Chefs besonders zu gefährden. Victor Serge widmet jedem von ihnen ein Kapitel, wir lernen Sprache und Denkweise dieser Menschen kennen, von denen die einen bis zur Selbstverleugnung gehen, während anderen Wahrheit nichts und eigene Macht alles ist. „Gestern ein Held, heute Abfall, das ist die Dialektik der Geschichte“ erkennt einer von ihnen.

Victor Serge hat diese Art Menschen selbst kennengelernt. Er war 1890 in Brüssel als Sohn russischer Emigranten zur Welt gekommen, neigte schon als junger Mann zur Linken und zum Anarchismus und wurde wegen eines Attentats-Verdachts 1911 in Frankreich inhaftiert. Im Austausch gegen Geiseln der Bolschewiken kam er nach Russland, wo er Mitglied der Kommunistischen Partei wurde und sich als Journalist und Übersetzer betätigte. Dabei erkannte er die Probleme der Revolution und nahm Anstoß am Entstehen einer privilegierten, politisch mächtigen Schicht von Parteimitgliedern. 1923 kam er als Agitator nach Deutschland, wo die geplante Revolution aber abgeblasen werden musste. Serge schloss sich, wieder in Russland, den Trotzkisten an und wurde, nachdem Stalin sich durchgesetzt hatte, 1927 in die Verbannung geschickt. Dank einer westeuropäische Solidaritätsaktion kam er frei, sonst wäre er, wie so viele, wie die Helden seines Buchs, geräuschlos in den Kerkern Stalins untergegangen. Der Verfolgung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg entging er mit demselben Schiff, mit dem auch Anna Seghers, Claude Lévi-Strauss und André Breton nach Amerika entkamen. Wie wichtig Serges Zeugnis und Serges Haltung gewesen sind, hat sich zuletzt daran gezeigt, dass Susan Sontag ihm einen eigenen Essay gewidmet hat (“The Unextinguished: The Case of Victor Serge”).

ISBN 3-293-20649-2

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